C) Hochschule und Arbeitsdienst

Nach dem Abitur sagte ich meinen Angehörigen: „Jetzt gehe ich nach Regensburg und werde Priester.“ Eigentlich hätte ich lieber in Rom studiert und wäre Missionar geworden. Aber da gab es einige Hindernisse: Ich hatte nur das kleine Latinum und konnte weder Italienisch noch Griechisch. Auch wollte ich meine Mutter, die ganz für mich lebte, nicht im Stich lassen. Andererseits  wollte  ich  auch  keine  Zeit  verlieren.  Deshalb  inskribierte  ich  mich  an  der

Philosophisch – theologischen Hochschule in Regensburg, zog mich aber in das Kloster Metten - dort war Corbinian Hofmeister, der Onkel unseres Gruppenkaplans, Abt - für vier Monate zurück, um Latein und Griechisch zu büffeln. Es war eine herrliche Zeit. Am Morgen hatte ich Privatunterricht in Griechisch und Latein. Dann erledigte ich meine Aufgaben. Am Nachmittag schlenderte ich Wörter memorierend durch die herrliche Gegend. Mein Lateinlehrer war der Novize  Augustinus, später Kardinal in Rom.

 

Mit meiner Amberger Gruppe blieb ich in lebendigem Kontakt und beteiligte mich in den Semesterferien an den Großfahrten.

 

Zu Beginn des Wintersemesters legte ich an der Hochschule Regensburg die Prüfungen in Latein und Griechisch ab, desgleichen in Philosophie, Kirchengeschichte und Pädagogik vertrauend auf die Aufzeichnungen meiner Kommilitonen und auf meine Oberrealschul- kenntnisse in den naturwissenschaftlichen Fächern Physik und Biologie. Zwar machte Professor Dr. Killermann, der Biologe, die erstaunte Bemerkung: „Sie kenne ich ja gar nicht.“ Aber das tat dem Erfolg keinen Abbruch, zumal der Philosoph Dr. Engert dankbar für jede auch nur halbwegs richtige Antwort war. So konnte ich also im Wintersemester mit meinen Kommilitonen aus den Humanistischen Gymnasien gleichziehen.

 

Die Professoren der Hochschule machten auf mich zunächst einen etwas befremdlichen Eindruck. Naturgemäß sind mir vor allem jene in lebhafter Erinnerung, welche in irgendeiner Weise aus dem Rahmen des Üblichen fielen. Da war unser Philosoph Dr. Engert, etwas klein von Gestalt mit spitzer Nase. Seine Vorlesungen gingen zumeist über die Köpfe der Hörer hinweg. Deshalb waren die Examina für ihn eine enttäuschende Marter. Killermann, der Biologe, musste den boshaften Studenten abermals und abermals erklären, dass er, ein berühmter Mykologe, nicht Mücken–, sondern Pilzforscher ist. Zum Gaudium aller erzählte er auch mehrmals, dass er denn größten Affenschädel in ganz Deutschland habe; er meinte natürlich in seiner Sammlung. Noch ein erheiterndes Diktum wird Dr. Killermann nachgesagt: „Der Hahn legt Eier“ – Gelächter im Auditorium – „natürlich nur, wenn er weiblichen Geschlechtes ist.“ Doktor Grünwald, der gewichtige Pädagoge, hatte in seinen Vorlesungen die schlechteste Disziplin. Mit Haushaltsgummis schossen die Hörer nassgekautes Papier in den verschiedensten Farben an die Decke des Saales. Von Dr. Krieg, dem Kirchenrechtler – wegen seines Ascherbecher (Aschaffenburger) Dialekts Dr. Krisch genannt – erzählte man sich folgende Anekdote: Am Neupfarrplatz sprach ihn einer seiner Hörer an: „Herr Doktor Kriesch, ihr Sockenhalter hängt herunter“. - „Hängt der arsch herunter?“ – „Nein nicht der Arsch, der Sockenhalter.“ Der Alttestamentler Dr.Lippl war klein von Gestalt und bucklig, genoss aber wegen seiner überragenden Gelehrtheit und warmen Menschlichkeit allgemeine Achtung. Zu nennen ist noch der Dogmatiker Dr. Pascher wegen seiner tiefgründigen Vorlesungen, die er immer wieder unterbrach, sich vor das Pult stellte und begeistert und begeisternd über eine Stelle der Heiligen Schrift sprach.

 

Das Priesterseminar war nach heutigen Begriffen primitiv eingerichtet. Die über 40 Alumnen unseres Kurses schliefen in großen Sälen. Als Waschgelegenheit hatten wir eine kleine Schüssel, die wir jeden Abend an der Leitung mit kaltem Wasser füllten, das im Winter gefror. Der Ausgang war gemeinsam in klerikaler Kleidung. Unser Regens war ein seelenguter, persönlich disziplinierter Mann, aber von kleinlichem Dirigismus. So war es zum Beispiel verboten, sich am Morgen zu rasieren, weil man eventuell zu spät zur Betrachtung hätte kommen können. Um des hohen Zieles willen nahmen wir diese Kleinlichkeiten in Kauf, wenn auch mit einigem Groll, der sich dann und wann in einem Witz Luft machte: Ein Alumne bittet den Regens um Erlaubnis, an der Hochzeit seiner Schwester teilnehmen zu dürfen. Entrüstet meint der Regens, dass sich das für einen Priesteramtskandidaten nicht schickt. Worauf der Alumne schüchtern einwendet: „Aber auch Christus war doch bei der Hochzeit zu Kana.“ Darauf der Regens: „Das hätte er auch besser bleiben lassen.“

 

Das Studienjahr 1934/35 verlief ohne weitere Vorkommnisse. Am 24. Juli gingen wir  auf Großfahrt. Ein geschlossenes Fahren mit der Gruppe war nicht möglich. Daher wurden drei Gruppen gemacht, die an verschiedenen Tagen losfuhren. Beim Südmarklager hinter den hohen Mauern des Klosters Untermarchtal trafen wir wieder zusammen. Natürlich ist diese Tagung als rein religiöse Veranstaltung  getarnt. Die gehaltvollen Referate und Arbeitskreise und nicht zuletzt  der umwerfende Fez stärken unsere Gemeinschaft und geben Orientierung und Mut für die vorauszusehenden Auseinandersetzungen mit dem gottlosen Regime.

Nach  der  Tagung  geht die  Fahrt  in  drei  Abteilungen weiter, teils über  Stuttgart, teils über Freiburg durch die Pfalz bis Hassel bei Sankt Ingbert. Tief im Wald versteckt steht ein Häuschen für uns bereit. Tag- und Nachtwachen müssen aufpassen, dass wir nicht gestohlen werden. An Saar und Mosel entlang geht dann die Fahrt an den Rhein. Wir passieren mit dem Schiff die Loreley und treffen reich an Erlebnissen nacheinander wieder in Amberg ein.              

Die Stellung unseres Geistlichen Führers wird in Amberg immer unhaltbarer. Schließlich kommt er als Pfarrer nach Schmidgaden, betreut aber in aufopferungsvoller Arbeit weiterhin die Gruppe.

 

files/ksj-pool/merz/image003_2.gifEreignisreicher wurde für mich das Jahr 1936. Im Frühjahr wurde unser Jahrgang zum Reichsarbeitsdienst eingezogen. Unser Hochschulrektor, Dr. Heidingsfelder, setzte sich mit der Einberufungsstelle in Verbindung und erfuhr dort, dass die Theologen „bevorzugt“ behandelt würden. Er verstand das so, dass alle zusammen in das gleiche Lager kämen, wurde aber sogleich korrigiert: „Wir verstehen das besser“. So wurden wir Regensburger Theologen über ganz Norddeutschland verteilt, in etwa jedes vierte Lager einer. Ich wurde nach Perleberg (zwischen Berlin und Hamburg) einberufen und kam dort infolge einer Schreibstubenpanne vier Tage verspätet an. Auf der Kleiderkammer bekam ich einige Klamotten hingeworfen, darunter zwei Knobelbecher, von denen der eine zu groß, der andere zu klein war. Auf meine diesbezügliche Beschwerde bekam ich vom Kleiderbullen die lakonische Antwort: „Das gleicht sich aus“.

                                                             

Unser eigentlicher Lagerchef war noch nicht anwesend.   Er  wurde  von  einem   Feldmeister vertreten, der uns Katholiken  bereitwillig Ausgang zum Sonntagsgottesdienst   gewährte. Das war eigentlich illegal, denn von rechts wegen gab es erst Ausgang, wenn wir ordnungsgemäß zu grüßen und zu gehen gelernt hatten.

Zur Kirche der kleinen Diasporapfarrei hatten wir etwa einen Kilometer Weg. Da der Pfarrer auch auswärts Filialen zu betreuen hatte, waren die Sonntagsgottesdienste in Perleberg einmal am frühen Morgen und dann wieder vormittags 10 Uhr. Als es an einem Sonntag nicht möglich war, in Perleberg die Messe zu besuchen, nahmen wir ein Mietauto und fuhren zum Gottesdienst in die nächst größere Stadt Wittenberge.

 

Nach einigen Wochen übernahm Oberstfeldmeister Paul, oder wie wir ihn nannten  „Olle Paul“, das Lagerkommando. Und schon gab es mit ihm den ersten Zusammenstoß. Wir hatten vom Feldmeister die Erlaubnis zum Messbesuch bekommen, der diesmal während der Flaggenparade stattfand. Die Flaggenparade war gewissermaßen der sonntägliche „Gottesdienst“ im Lager. Die gesamte Mannschaft stand im Karree um den Fahnenmast. Es wurde feierlich ein Wort des Führers oder eines großen Deutschen zitiert und dabei das Lagerbanner aufgezogen. –

Wir kamen gerade zurück vom Gottesdienst. Auf der Wache wurden wir mit höhnischem Lachen empfangen: „Nun ist es aus mit der Kirchgeherei. Der Alte hat getobt und der Feldmeister hat eine solche Zigarre verpasst bekommen.“ Der Wachhabende machte dazu eine entsprechende Geste. Bald darauf kam der Feldmeister in die Truppstube. Wir bedauerten, dass er unsertwegen einen „Anschiss“ vom Chef bekommen hatte, was er mit einer wegwerfenden Handbewegung abtat. Wir sollten sofort zum Oberstfeldmeister kommen. Der belehrte uns mit scharfen Worten: „Die Flaggenparade ist der Dienst des Tages, bei dem alle Arbeitsmänner anwesend sein müssen. Was ihr vorher und nachher tut, ist mir egal.“

 

Am Sonntag darauf baten wir unseren Zugführer, Unterfeldmeister Marcellier – der sich bald als Katholikenfresser entpuppte – nach der Flaggenparade um Ausgangserlaubnis zum Gottesdienst. „Warum seid ihr nicht in der Frühe gegangen?“ – „Da war der Pfarrer auswärts“ – „Pech gehabt.“ Da ich wenigstens am Nachmittag kommunizieren wollte, hatte ich wegen des Nüchternheitsgebotes bereits auf das Frühstück verzichtet und aß auch am Mittag nichts. Das erregte einiges Aufsehen. Beim gemeinsamen Mittagessen mussten alle anwesend sein. Und bald wurde rund um mich getuschelt: „Warum isst denn der nichts?“ – „Der geht zum Abendmahl“.

 

Am Dienstag der folgenden Woche war nachts 12 Uhr Alarm. In höchster Eile werfen wir uns in die Arbeitskluft und treten mit dem Spaten vor der Baracke an. Wir meinen, es wäre Katastropheneinsatz. Doch Marcellier schickt uns in den Waschraum, weil ihm anscheinend die Waschschüsseln nicht sauber genug waren. Dort herrscht eisiges Schweigen. Nur ein leises Pfeifen ist zu hören nach der Melodie „Du bist verrückt, mein Kind“„Raustreten! – „Wer war das?“  - Wieder eisiges Schweigen – „Nächsten Sonntag Ausgangsperre!“ Für uns wieder ein Problem: „Wie kommen wir zur Sonntagsmesse?“ Dafür sorgte die Göttliche Vorsehung.

 

Am Sonntag darauf war Gepäckmarsch für das Reichssportabzeichen. Am Samstag abend wurden die Tornister mit Sandsäcken beladen und abgewogen. Am Sonntag in aller Frühe ging es los – 25 Kilometer. Marcellier wollte das SA-Sportabzeichen machen und marschierter mit; er machte aber schlapp und fuhr mit einem Fahrrad in die Abteilung zurück, wo er sich in seinem Bett auskurierte. – „Pech gehabt!“ - Alle Arbeitsmänner hingegen hielten durch und marschierten am Vormittag schneidig in Perleberg ein. Darüber war Olle Paul hocherfreut und berichtete, der Arbeitsführer (einem General beim Militär vergleichbar) hätte die Abteilung einmarschieren sehen und ihn gefragt: „Marschieren die Leute aus zum Gepäckmarsch?“ – „Nein, mein Arbeitsführer, sie kommen vom Gepäckmarsch.“ -  „Alle Achtung!“ –

 Olle Paul war in Hochstimmung und wir nutzten die Gunst der Stunde, warfen uns in Ausgehuniform und baten um Erlaubnis zum Gottesdienstbesuch. Olle Paul erstaunt: „Ihr seid doch müde und habt Blasen – legt euch doch wie alle anderen auf die Klappen.“ – „Wir bitten um Ausgangserlaubnis zum Gottesdienst.“ – „Na gut, wenn ihr so wollt.“

 

Einige Tage später ließ mich Marcellier rufen: „Merz, Sie hatten doch Ausgangssperre und waren trotzdem beim Gottesdienst?“ – „Ja.“ – „Möchte man nicht glauben, welche Macht die katholische Kirche hat.“

 

In diesen ersten Wochen hatte ich so manch interessante Begegnung. Da es bald bekannt wurde, dass ich katholische Theologie studiere, wurde ich einfach „Pastor“ genannt. In unserer Abteilung war ein besonders fetter Truppführer, der im Ruf eines sittlichen Schweins stand. Eines Tages sprach er mich an: „Als katholischer Pastor dürfen sie doch keinen Sex mit Weibern haben.“ – Ich bejahte. – „Junger Mann, das gibt es nicht. Und übrigens kommen Sie aus dem Arbeitsdienst nicht mehr so heraus, wie Sie hereingekommen sind. Wir nehmen Sie schon in Lokale mit, in denen saftige Weiber sind.“ Ich wunderte mich: Der Mann müsste mich doch eigentlich bedauern – wieso hat er ein Interesse daran, mich zu seiner Lebensart zu bekehren?

 

Mit einem Vormann, der eine Schulung über ein kirchenfeindliches Pamphlet, den „Mythos des 20. Jahrhunderts“ von Alfred Rosenberg, gemacht hatte, debattierte ich zuweilen in Anwesenheit meiner Truppkameraden. Es gelang mir nicht, ihn mit  Vernunftargumenten auch nur nachdenklich zu machen. Da meldete sich Gehrke, ein einfacher Schlossergeselle, zu Wort: „Was Sie da über den  ‚Mythos des 20. Jahrhunderts’ sagen, wird alles wieder verschwinden. Die katholische Kirche ist schon 2000 Jahre alt. Ich bin nämlich och katholisch.“ – Schluss der Debatte! Das „Ich bin och katholisch“ war wirkungsvoller als all meine wissenschaftlichen Argumente.

 

In unserem Trupp war auch ein gewisser Piechota, Schlotfeger aus Berlin. Der hatte eine Riesenklappe und erzählte, wenn wir spät abends in unseren Betten lagen, lang und breit die Sexorgien mit seinem Mädchen. Aber schon nach einigen Tagen merkten wir, dass es immer die gleichen Schlagwörter waren, die er unablässig gebrauchte. Als dann der Bildungsstand aufgenommen wurde, stellte sich heraus, dass er Hilfsschüler war.

 

Da wir in den ersten Wochen noch keine allgemeine Ausgangserlaubnis hatten, fuhr an einem Sonntag nachmittag die gesamte Abteilung mit den Rädern zu einem Forsthaus mit Wirtshausbetrieb. Es war für genügend Mädchen gesorgt und die meisten tanzten. Ich saß mit einigen mir noch unbekannten Kameraden beim Kaffee zusammen und versuchte, das Gespräch auf Weltanschauungsfragen zu lenken. Da waren zwei Zeugen Jehovas, die ihren Standpunkt engagiert vertraten und einige Protestanten, die von Religion kaum eine Ahnung hatten. Marcellier hörte etwas zu und äußerte sich: „Das Christentum  ist schon recht, aber nur zur Erziehung der Kinder. Für mich ist Hitler Christus.“

 

Dann war da noch ein älterer Arbeitsmann, der bayerischen Dialekt sprach und erbost auf Kirche und Pfaffen schimpfte. Der Mann interessierte mich und als ich ihn im Hof der Forstwirtschaft traf, sprach ich ihn an. Er war hocherfreut, bayerische Töne zu hören und ich erfuhr, dass er, Franz Mager, bereits  34 Jahre zählt und aus Österreich – wahrscheinlich wegen eines Naziverbrechens – flüchten musste. Er sagte mir auch, dass er schon längst aus der Kirche ausgetreten wäre, wenn dies seinen katholischen Eltern nicht das Herz brechen würde. In diesem preußischen Lager fühle er sich gar nicht wohl. Er verstehe schon einmal die Sprache nicht und die süßen Suppen, die es zum Frühstück regelmäßig gab, seien nach hundert Meter Radfahren bereits wieder verdaut. Meine Sprache verstehe er wenigstens.

 Ich sagte ihm, dass ich ein Lebensmittelpaket von zu Hause bekommen habe und er könne eine große Hartwurst daraus haben. – Am Abend – wir lagen schon in den Klappen – kam er: „Die Wurst!“ – Er nahm sie mit feierlichem Deutschen Gruß in Empfang.

Ich war nun öfters mit ihm zusammen und bezahlte ihm dann und wann eine Brotzeit. Wegen seines Alters und weil er im RAD Karriere machen wollte, wurde er bald zum Vormann befördert. Später hatte er auch die Elite-Mannschaft für den Reichsparteitag auszusondern. Ich war der erste, den er dazu auswählte.

Eines Tages – es war schon gegen Ende meiner RAD-zeit – waren wir an einem Sonntag nachmittag beim  Kaffee in einem Forsthaus. Da fragte er mich: „Jetzt sind wir schon so lange zusammen und verstehen uns gut und ich weiß noch nicht einmal, was du eigentlich bist.“ – „Ich bin Student“ – „Dachte ich mir schon, dass du was Besseres bist. Was studierst du denn?“ – „Katholische Theologie“ – „ Ja, willst du denn Pfarrer werden?“ – „Natürlich.“ – Er schüttelte fassungslos den Kopf: „Jetzt will der ein Pfarrer werden.“

 

Ähnlich enttäuscht reagierte ein nettes Mädchen. Und das kam so: Weil wir im allgemeinen eine salzige Kost bekamen – besonders oft eine Suppe mit Kohlblättern, die anscheinend mit Soda gewürzt war und die wir ‚Fußlappensuppe’ nannten, – ging ich regelmäßig an den Samstagabenden in eine Bäckerei und kaufte von dem mir geschickten Geld – die 25 Pfennig Tageslohn reichten dazu nicht aus – etwas süßes Backwerk. Dann kaufte ich in einem Milchladen einen Liter Milch und verzehrte beides in Gesellschaft mit dem netten Milchmädchen. Dieses wurde zusehends zutraulicher und rückte immer näher auf mich zu. Schließlich fragte sie mich nach meinem Beruf. – „Student.“ – Sie strahlte: „Und was studieren Sie?“ – „Katholische Theologie.“ – Und dann kam es enttäuscht: „Ist das schade!“

 

Meine Kenntnisse und Erfahrungen als Jungführer konnte ich im RAD gut verwerten. Ich inszenierte ein Schattentheater „Auf der Sanitätsstube“ und als Olle Paul ein großangelegtes Frühlingsfest veranstaltete, zu dem er die RAD-Prominenz von weit her einlud, organisierte ich eine Bude, in der man gegen Bezahlung Geschirr kaputt werfen konnte: „Pingpong, das Lieblingsspiel der Kaiserin von China“. Und als die Prominenten fragten: „Wer ist denn dieser Schießbudenmanager mit dem geschliffenen Mundwerk?“, bekamen sie die Antwort: „Das ist unser Pastor aus Bayern.

 

Wir hatten auch während er Woche mehrmals einen politischen Unterricht, den ein junger Truppführer, der frisch vom Schulungskurs der Partei gekommen war, abhielt. Er sprach über die Christianisierung der Germanen und verurteilte Karl den Großen mit heftigen Worten als „Sachsenschlächter“. Ich meldete mich: „Aber der Führer hat doch vor kurzem in einer Rede gesagt: ‚Das alberne Geschwätz von Karl dem Großen als Sachsenschlächter soll endlich aufhören. Schließlich war die Einigung Deutschlands die Opfer wert, ohne die es nun einmal nicht ging’. - „Hat das der Führer gesagt?“ – „Natürlich, das kann ich ihnen nachweisen.“ – „Dann würde sich allerdings unsere Ansicht über  Karl den Großen ändern.“

 

Mein Ansehen im Lager stieg zusehends und auch bei Olle Paul hatte ich bald einen Stein im Brett. Als bei einem Marsch durch die Stadt die Abteilung sang: „Wir sind des Geiers schwarze Haufen“, korrigierte er den Refrain: „Setzt aufs Klosterdach den roten Hahn!“ – „Das heißt doch: ‚Setzt aufs Klosterdach den Hahn!“

 

Für jeden Urlaub mussten wir Ziel und Zweck in ein Heftchen eintragen und den Urlaub genehmigen lassen. Diesbezüglich ließ mich Olle Paul einmal rufen und fragte mich in Anwesenheit meines Zugführers: „Sie kommen doch aus Bayern, fahren da durch ganz Norddeutschland in die verschiedensten Städte und schreiben jedes Mal: ‚Besuch eines Bekannten’ – was haben sie da heroben eigentlich für Bekannte?“ – „Da gehe ich in jeder Stadt zum katholischen Pfarrer und werde überall herzlich aufgenommen.“ – „Auf diese Masche also reisen sie!“  Marcellier mischte sich ein: „Wie grüßen sie da eigentlich, wenn sie zum Pastor kommen?“ – „Mit 'Grüß Gott!“ Marcellier ist entsetzt. Aber Olle Paul stellt die Sache klar: „Marcellier, das verstehen sie nicht. Ich war schon oft in Bayern: da sagen alle ‚Grüß Gott!“

 

Zur Vorbereitung auf die Olympiade und den Reichs-Partei-Tag wurden in ganz Deutschland Eliteeinheiten des Arbeitsdienstes aufgestellt, welche bei diesen Veranstaltungen Massenauftritte zum Beispiel von Fahnenschwingern oder Ordnungsdienst zu leisten hatten. Die „zweite“ Wahl der Lagermannschaft wurde aufs Land zur Arbeit geschickt. Wir in Perleberg hatten nur noch Exerzierdienst und bekamen doppelten Lohn. Dabei wurden wir auf alle Eventualitäten vorbereitet. Wenn einem zum Beispiel – was freilich nie passieren dürfte – wirklich einmal der Spaten beim Kommando „Den Spaten über!“ entgleiten sollte, durfte man sich nicht sofort danach bücken, sondern ihn erst beim Abmarsch „auf die jüdisch-marxistisch-römisch-katholische Tour“, das heißt klammheimlich aufnehmen.

 

So vorbereitet fuhren wir also zur Olympiade nach Berlin. Dort waren Tausende Arbeitsmänner in einem riesigen Camp eingesperrt. Wahrscheinlich zum Schutz der Berliner Mädchen gab es keinen Ausgang. Nur einer bekam durch Vermittlung von Olle Paul die Erlaubnis zum Besuch des Sonntagsgottesdienstes: Arbeitsmann Merz. – Übrigens hatten wir in Berlin eine eigene Theologenecke; wir rochen uns nämlich hundert Meter gegen den Wind. 

 

Zu Ende passierte es dann: Es war am letzten Abend der Olympiade im Berliner Stadion. Wir hatten Absperrdienst und ich war ganz Auge und Ohr für die interessanten folkloristischen Darbietungen der verschiedenen Nationen. Da kam unvermutet das Kommando: „Den Spaten!“ Mir entglitt der Spaten und fiel zu Boden. Olle Paul hörte das Geräusch und wandte sich um. - Er hat darüber kein Wort verloren.

 

Da war noch ein Ereignis, welches die ganze Belegschaft des Lagers von oben bis unten in heillose Verwirrung  stürzte. An einem heißen Sommertag waren alle Arbeitsmänner unseres Lagers im Bad von Perleberg. Die Bäder waren damals primitiv. Um einen kleinen Abschnitt des Flusses war einfach eine Bretterwand errichtet. Im Innern befanden sich einige Kabinen und Stege. Da ging plötzlich die Nachricht von Mund zu Mund: „Sie konnten ihn nur noch als Leiche bergen.“ Einer der Arbeitsmänner hatte sich wohl in den Schlinggewächsen verheddert und war ertrunken. Sogleich beendete die gesamte Mannschaft das Badevergnügen und alle marschierten verstört und mit gesenkten Köpfen ins Lager zurück. Dort umstanden mich viele konsterniert und ratlos und richteten an mich – gewissermaßen als einen Fachmann in überirdischen Dingen – die bange Frage: „Was ist jetzt mit dem?“ Und Arbeitsmann Mager philosophierte: „Es muss was geben, es muss was geben.“ Die gleiche Hilflosigkeit zeigte sich beim Begräbnis, an dem natürlich die gesamte Lagerbesatzung teilnahm. Was sollte auch Olle Paul zum Trost der Angehörigen sagen? Das übliche „Er lebt in seinen Kindern weiter“ passte hier nicht. So blieb nur der sinnige Trost „Geh ein in Wahlhall!“ – Aber schon einige Tage nach dem Begräbnis war der „unvergessliche“ Arbeitsmann vergessen und auch der Schock verflogen.

 

Noch eine Begebenheit ist mir in lebhafter Erinnerung. Es war ein drückend heißer Sommernachmittag. Die Abteilung war im Bad. Nur drei Arbeitsmänner räumte das Lager auf. Da kam Olle Paul mit seinem Sportwagen angerauscht. Er fragte den Wachhabenden, warum die drei Arbeitsmänner nicht mit im Bad seien und bekam die Antwort: „Strafdienst, weil sie über den Zapfen gehaut haben“ (das heißt: erst nach 24 Uhr vom Urlaub im Lager einpassiert sind). Da geht Olle Paul auf mich zu: „Auch Sie, Merz?“ – „Ich habe mich freiwillig gemeldet, weil  noch ein Mann gebraucht wurde.“ – Ich merkte, wie Olle Paul erleichtert aufatmete.

 

Nach dem Erlebnis des  Reichs-Partei-Tages in Nürnberg, bei dem mich meine Mutter besuchte, aber nur durch ein Drahtgitter mit mir sprechen konnte, genoss ich den Sonderurlaub in Hamburg. – Dann richteten wir uns auf den Abschluss unserer Dienstzeit ein. Das Lager musste gründlich gesäubert und vor allem entwanzt werden. Diese bissigen Biester saßen nämlich aneinander gereiht wie die Perlen eines Rosenkranzes in den Furchen der Barackenbretterverkleidung und wenn einer der Lagerführer mit seinem Haumesser die Furche herunter fuhr, dann spritzte das Blut – unser Blut.

 

Noch ein ungebetener Gast erschien in dieser Zeit im Lager, die Polizei, welche Arbeitsmann Piechota wegen seiner Vaterschaft belangte. Jetzt hieß es nicht mehr: „Mein Reserl“, sondern: „Die Sau, die Sau hat mich angezeigt.“

 

Es war an einem der letzten Samstage vor der Entlassung. Gegen Abend putze ich eines der großen Fenster des Hauptgebäudes, als Olle Paul vorbeikommt: „Oberstfeldmeister!“ – „Ja, und?“ – „Wir bitten um Ausgangserlaubnis zum morgigen Sonntagsgottesdienst.“ – „Ja, natürlich.“ – „Aber der Pfarrer ist am Morgen auswärts und der einzige Gottesdienst in Perleberg findet während der Flaggenparade statt.“ – Olle Paul stutzt. – „ Wenn sie die Erlaubnis nicht geben, nehmen wir ein Taxi und fahren nach Wittenberge.“ – „Würden sie das tun?“ – „Das haben wir schon einmal gemacht.“ – „Na, ich will Sie nicht ums Geld bringen; dann gehen sie während der Flaggenparade.“ – „Meine katholischen Kameraden wollen auch mit.“ – „Dann nehmen sie die auch mit.“

 

Bei der Abschiedsveranstaltung vom RAD werden die besten drei Arbeitsmänner prämiert. Darunter auch Arbeitsmann Merz. – Während dann alle unter Freudengeheul und Geschimpfe auf den Arbeitsdienst das Lager verlassen, macht Arbeitsmann Merz einen kurzen Besuch bei Olle Paul und bedankt sich für alles, was er im RAD erfahren und gelernt hatte. -

Ein Jahr später. Ich komme gerade im Talar aus der Vorlesung und sehe vor dem Eingang der Hochschule einen Mercedes mit RAD-Standarte. Vor dem Wagen steht Olle Paul. Er war wieder einmal in Bayern, hatte sich im Seminar nach mir erkundigt und auf mich vor der Hochschule gewartet.

 

Im Wintersemester nach dem Arbeitsdienst bewältigten wir den Lehrstoff von zwei Semestern  in Kurzform. Das Studium verlief nun ungestört und hinter den Mauern des Priesterseminars waren wir vor der braunen Willkür abgeschirmt.

 

1938. Das Dritte Reich ist aufgerüstet und auf dem Gipfel seiner Macht. Da mit der Subdiakonats- und Diakonatsweihe die Verpflichtung zum Zölibat und Breviergebet verbunden ist und somit die endgültige Entscheidung für das Priestertum erfolgt, besucht mich meine Mutter in Regensburg und stellt mir eindringlich die Situation vor Augen: „Du weißt, was dir als Priester unter Hitler blüht. Du hast alle Möglichkeiten der Wahl aller Berufe, sowohl deinen Fähigkeiten nach als auch nach unseren Finanzen. Überlege dir nun gut, was du tust!“ Für mich gab es jedoch keine Zweifel, denn jeder anderer Beruf erschien mir zweitrangig und hätte mich nicht befriedigt.

 

Es war im Sommer 1938, als mich der Tod zum erstenmal grüßte. Wir zwei Diakone, Schindler Alois und ich, waren auf Bergwanderung. Schon auf dem Rückweg von der Serles in den Stubaier Alpen wurde es bereits gefährlich, als ein plötzlicher Schneefall alle Markierungen  zudeckte.

Verdammt ernst wurde es aber bei unserer Tour durchs Höllental auf die Zugspitze.

 Der endlos lang scheinende gesicherte Zickzackpfad die steile Wand am Ende des Höllentales empor ist mir zu langweilig. Ich verlasse den gesicherten Steig und will per Diretissima nach oben. Da merke ich, dass ich mich im Wettersteingebirge befinde. Es gibt keinen festen Halt mehr. Die Hände greifen in feuchtes, mit nassem Lehm vermischtes Geröll und auch die Füße finden keine Stütze – und hinter mir der gähnende Abgrund: „Alois, komm schnell und häng dich an das Drahtseil!“ - Ich bekomme gerade noch mit Daumen und Mittelfinger einen seiner Stiefelabsätze zu fassen.

Das war der einzige ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht.