B) Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus

In diesen Jahren nahm die nationalsozialistische Bewegung an Mitgliederzahl und Einfluss immer mehr zu. Auch meine Klassenkameraden waren fast durchwegs Hitlerjungen.

Im Schuljahr 1930/31 konnte sich unsere Gruppe noch ungestört entwickeln. Zu Pfingsten waren wir beim Gautag in Neumarkt, im Juli ging ich mit meiner Junggruppe auf eine Zwei -tagesfahrt in die fränkische Schweiz. In den großen Ferien hatten wir 2 ½  Wochen lang ein Standquartier im Kloster Metten, machten Tagesfahrten in den unteren Bayrischen Wald und Kahnfahrten auf der Donau zur Klosterinsel. Bei den Patres bedankten wir uns mit einigen Theaterstücken. Im Herbst waren die üblichen Feiern zu Christ – König und das Hauptfest am 8. Dezember. Am 22. Dezember war Weihnachtselternabend.

Am 23. Dezember fuhren wir mit dem Zug nach Weiden, um der jungen ND – Gruppe auf die Beine zu helfen. Es war klirrend kalt und unser Abteil war nicht geheizt. Für die Rolle der Hl. Maria in unserem Weihnachtsspiel hatten wir ein Mädchen dabei, das sich an die gefrorene Fensterscheibe lehnte, welche klirrend in die Gegend flog. Der Schaffner: „Welcher von den Herren hat die Scheibe zerbrochen?“ Unser Kaplan schlagfertig: „Keiner von den Herren!“

 

Die Tagungen und Feiern des Schuljahres 1931/32 setzten sich mit der Ideologie des Nationalsozialismus auseinander. Am Pfingsten war Gauzeltlager in Weltenburg. Beim Johannesfeuer gelobten wir Treue zu unserem Bund und zur Kirche. Im Sommer übernahm ich zum ersten Mal die Verantwortung für die Großfahrt unserer Gruppe. Wir fuhren mit den Rädern zum Bundeszeltlager bei Dietz in der Diözese Limburg. 2000 NDer trafen sich 5 Tage lang zu ernsten Referaten, sportlichen Wettkämpfen und großartigen Feierstunden. Das waren erhebende Erlebnisse, die uns angesichts der immer bedrohlicher werdenden braunen Gefahr Klarheit und Entschlossenheit gaben. Dann ging unsere Fahrt weiter nach Koblenz und mit einem Rheindampfer nach Mainz und wieder mit den Rädern über Worms, Speyer, Heidelberg, Rottenburg an der Tauber heimwärts.   

 

Mit der Übernahme der Gesamtgruppenführung am 1. September 1931 beginnt für mich eine stürmische und kämpferische Zeit.

 

Die Begeisterung für den Nationalsozialismus erfasst weite Kreise der Bevölkerung: Deutschland war „erwacht.“ Nach der Demütigung durch den Versailler Vertrag und den wirtschaftlichen Krisen der Nachkriegszeit erwacht in den Deutschen wieder Mut und Selbstbewusstsein: „Wir lassen uns nicht mehr alles gefallen, wir sind wieder wer.“ Kein Wunder, dass dieser deutsche Frühling auch junge Idealisten unserer Gruppe erfasst und begeistert. Dafür nur ein Beispiel: Wir hatten in der Gruppe einen äußerst talentierten jungen Dichter, Hans Baumann, der 1932 mit 18 Jahren sein erstes Lieder- und Gedichtbändchen herausbrachte: „Macht keinen Lärm“. Darin findet sich neben außerordentlich schönen und tiefempfundenen  Liedern, wie „Es geht eine helle Flöte“, auch ein Song, der zum Schlager der Hitlerjugend wurde:

                      „Es zittern die morschen Knochen der Welt vor dem roten Krieg.
                      Wir haben den Schrecken gebrochen, für uns war’s ein großer Sieg.
                      Wir werden weiter marschieren, bis alles in Scherben fällt;
                      Denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“.

Wenn man bedenkt, dass unser Gruppenkaplan, ein erklärter Gegner des Nazismus war und aus seinem Herzen keine Mördergrube machte, kann man sich die „innerpolitischen“ Spannungen der Gruppe jener Zeit ausmalen.

Des ungeachtet erlebt die Gruppe unmittelbar vor dem Dritten Reich eine bisher ungeahnte Blüte. Sie zählt jetzt über 100 Buben. Das übliche Gruppenleben wird noch bereichert durch regelmäßige Sportsunden auf dem DJK-Platz. Bei Speckmannshof wird eine Spielwiese erworben und der Bau eines unterirdischen Bunkers in Angriff genommen. Unsere Musikschar war 15 Mann stark. In Zusammenarbeit von Kaplan und musikbegeisterten Gruppenmitgliedern entsteht das Liederbuch „Musika“.

Die Gruppe setzt sich ein für Diaspora und Caritas, sie startet Werbeaktionen für katholisches Schrifttum. Die katholische Illustrierte „Der Feuerreiter“ wird von unseren Buben ausgetragen. Im Frühsommer laden wir zu einem Fest auf den Wiesen über Krumbach. Theater wird viel gespielt und unsere Kasperlbühne mit ihren Handpuppen erfreut sich regen Zuspruches. In unseren und den bundesweit gefeierten Gemeinschaftsmessen werden die Keime für die Liturgiereform des künftigen Konzils gelegt.                            

Im Sommer 1932 fahre ich mit Buben aus Mittel– und Oberrunde zum Südmarkzeltlager bei Neuschwanstein. Dieses steht bereits unter dem Druck des vorhersehbaren braunen Unheils und stellt unsere Position im Gegensatz zur Naziideologie klar heraus. – Anschließend ist eine herrliche Fahrt in den bayerischen und österreichischen Alpen.

Im Herbst 1932 erwarb der Donaugau die Burg Kastl und wir hatten eine Menge zu tun, um sie für uns wohnlich zu machen

Pfingsten 1933 war Gautag in Kastl, bei dem uns Graf von Preysing, der Bischof von Eichstätt, besuchte und eine  Pontifikalmesse mit uns feierte.

Nach der Machtübernahme 1933 durch den Nationalsozialismus wurde die Hitlerjugend zur Staatsjugend. Es war uns klar, dass nunmehr die katholische Jugend, besonders die bewährten katholischen Jugendbünde als staatsfeindlich galten. Der 1.Mai 1933 war der erste und letzte, an dem katholische Jungend im Festzug mitmarschierte. Der Eindruck, den unsere Gruppe hinterließ, war weit besser als der der HJ, die nunmehr versuchte, unsere Leute als Führer zu angeln. So wurde mir das Angebot gemacht, gleich als Gefolgschaftsführer in die HJ einzutreten.

Damals war noch alles im Fluss und niemand wusste, wie Hitler in der Verantwortung als Reichskanzler reagieren würde. Er bot nämlich der Kirche ein Konkordat an, in dem er alle Forderungen und Wünsche der Bischöfe zusagte, vom schulischem Religionsunterricht bis zur ungehinderten Tätigkeit der katholischen Orden und Verbände. Obwohl berechtigte Zweifel an der Vertragstreue Hitlers bestanden, blieb in dieser Situation dem Papst nichts anderes übrig, als auf ein so günstiges Angebot einzugehen. Eine Ablehnung des für die Kirche so vorteilhaften Konkordates hätte nicht nur den Nazis eine gewisse Berechtigung für den Kampf gegen die Kirche gegeben, sondern auch die Katholiken Deutschlands vor den Kopf gestoßen: „Nun garantiert der Führer alle Rechte und Wünsche der Kirche und der Papst ist so stur und lehnt ab.“

Freilich war dieser Vertrag für Hitler nicht mehr als ein Fetzen Papier und bald war es offenkundig, dass er in allen Teilen gebrochen wurde. Denn der Kampf der Staatsmächte und die Feindseligkeiten der HJ gegen die katholische Jugend setzten überall ein. Die Hetze war allgemein und systematisch.

Wir nehmen in unserer Gruppe den Kampf bewusst und ungescheut auf. In keinem Punkt gibt es für uns ein Paktieren mit der klar als christusfeindlich erkannten Macht des Nazismus. Motto ist uns das Kampflied:

                  „Lasst euch nicht irren, seht euch nicht um!
                  Voran und schweigt vom Paktieren!
                  Die Vielen sind feige, die Vielen sind dumm;
                  Ihr Weg ist gewunden, ihr Rückgrad ist krumm.
                  Lasst ihr Gekläff euch nicht irren!
                  Lasst euch nicht irren, wie’s heult, wie’s droht,
                  Mag’s toben und klirren und schwirren!
                  Voran ins glimmende Morgenrot!
                  Viel besser ein aufrechter Mannestod,
                  Als ein Leben auf allen Vieren.“

Unser Gruppenbetrieb geht weiter trotz aller Verbote, die nur so daher hageln: Kluftverbot, Abzeichenverbot, Versammlungsverbot, Sportverbot, Wanderverbot, Spielverbot. Sogar Tornister und Rucksäcke sind für uns verboten, sodass wir mit Persilschachteln auf Fahrt gehen. Diese tragen allerdings die sinnige Aufschrift: „Persil bleibt Persil.“

Manche unserer Buben werden von den verängstigten Eltern veranlasst, auszutreten. Es kommt auch vor, dass der Vater seinen Sohn bei der HJ anmeldet und er gleichzeitig bei uns bleiben sollte. Darauf lassen wir uns jedoch nicht ein und geben ihm den Abschied.

Freilich müssen wir vorsichtig sein und tarnen. Die Gruppenstunden werden zu abwechselnden Zeiten – sogar manchmal früh 6 Uhr vor dem Unterricht – gehalten. Am Sonntag nachmittag treffen wir uns draußen irgendwo im Wald, der Kaplan in der Krachledernen.

Unter den Jungen der sechsten und siebten Klasse (heute Klasse 10 und 11) hatte sich im Lauf des Mai ein Komplott gebildet, das gegen die Haltung der Gruppe und besonders gegen den geistlichen Führer Sturm lief. In der allgemeinen nationalen Hochstimmung sahen es diese verführten Idealisten als ihre nationale Pflicht an, die Gruppe in die HJ überzuführen. In anmaßendem und bübischem Benehmen stänkerten und revolutionierten sie einige Wochen in der Gruppe, betrieben Minierarbeit und machten Sprengversuche. Jedoch ist die Gruppe innerlich stark genug, dass sie schließlich unter Ausscheidung dieser Elemente geklärt und gefestigt weiter machen kann. So wird die Mittelgruppe am 16.Juni 1933 kurzerhand aufgelöst, um die Quertreiber an die Luft zu setzen. Am Abend des gleichen Tages hat sie sich mit den Zuverlässigen neu konstituiert.

Am 6.Juli 1933 erschien die Polizei in unserem Heim, Katharinenstrasse 17, zur Beschlagnahme des Eigentums der Gruppe, wie es ein Funkspruch vom Staatsministerium des Inneren anordnete. Wir waren  auf diesen Raubzug gefasst und verteilten vorher alle wertvollen Einrichtungen des Heimes an zuverlässige Familien. So überließen wir etliche alte Möbelstücke, ein paar alte  Theatergarderobestücke und 15  ausrangierte  Bücher der   Polizei.

Am folgenden Tag holte die Polizei allerdings das Eigentum des Gaues – zumeist Feldbetten, die im Gartenhaus der Firma Platzer untergebracht waren.

Die  Rädelsführer der  Ausgeschiedenen ruhten  natürlich nicht. Sie haben uns aufgelauert, wo wir zusammenkämen, um der Polizei Meldung zu erstatten. Nur einmal gelang es  ein paar SA-Männern, die  staatsgefährliche  Jungenbande ausheben zu lassen. In  abendlicher Stundewar unsere  Oberrunde bei Familie Geberl zusammengekommen. Eben sangen wir: „Hätt´ uns nicht der  Sergeant geseh’n...“- da klingelte die Hausglocke und alsbald stand die Polizei in der Stube und hob  uns aus. Da aber der Polizeibeamte ein Nachbar von unserem Koll Fritz war und zudem die Sache nicht wichtig nahm, hatte es diesmal keine weiteren Folgen. Nur ein empörtes Hitlerianerherz verschaffte seiner Wut in einem Zeitungsartikel Luft:

 Wir fordern rücksichtsloses
Durchgreifen gegen die
Wühler

 

Der Bund „Neudeutschland“, der jugendliche Blinddarmbund des ehemaligen bayerischen Zentrums, glaubt unter den Fittichen eines Geistlichen trotz seines Verbotes weiterbestehen und weiterwühlen zu können.

So konnte die hiesige Gruppe gestern aus der Wohnung eines Mitgliedes von der SS aufgespürt und von der Polizei ausgehoben werden. Es ist immerhin eine ungeheure Frechheit, diese Methode heute noch zu wagen. Noch dazu, wenn es einen Geistlichen gibt, der sich zu einer solchen Handlung herbeilässt und sich einbildet, damit der Jugend einen Märtyrerdienst zu erweisen. Dem geistlichen Neudeutschlandpfarrer sei hier das Eine gesagt: in Deutschland wird in Zukunft nur noch die völkische Jugend ein Recht haben, zu marschieren, ultramontane Organisationen sind in unseren Augen antideutsch, deshalb gilt ihnen unser Kampf. Und das besonders heute noch in der Oberpfalz

 

Wo immer sich eine Gelegenheit bot, versuchten die Nazis, uns zu diffamieren. Als in den Weizenfeldern der Katharinenhöhe Liebespaare die Spuren ihre Liebesnester hinterließen berichtete die Amberger Volkszeitung:

„Unangenehm, aber wahr!

....Die Anwohner... konnten in letzter Zeit öfters verschiedene katholische Jugendgruppen beobachten, die sich in der fraglichen Gegend tummelten. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich bei diesen Verwüstungen um ein Werk dieser kurzsichtigen jungen Leute, die glauben, sie könnten in der Stadt auf Grund ihrer geistlichen Fürsprecher machen, was sie wollen. Wenn die zur Aufsicht mitgegebenen Herren nicht klüger sind und es nicht besser verstehen, ihre ihnen anvertrauten Jungens anders zur Achtung vor dem Werke Gottes zu erziehen, so langt man sich tatsächlich an den Kopf, dass es noch Eltern gibt, die ihre Kinder solchen unfähigen sogenannten „Jugendführern“ anvertrauen. An dieser Stelle möge ihnen gesagt sein, die Hitlerjugend ersetzt heute schon das Dasein solcher Verbände...“   

In der Hitlerdiktatur gab es natürlich keinerlei Möglichkeit,  sich in der Presse zu rechtfertigen.    

Weitaus schlimmere Folgen als das bisher Erwähnte hatte eine Episode im folgenden Jahr bei unserer Sommerfahrt in den Bayerischen Wald. Darüber berichtet die Gruppenchronik:

In Chamerau hatten wir im Stadel des Pfarrhofes übernachtet. Es war am Tag, nachdem Hindenburg gestorben war. Natürlich wussten wir nichts von der allgemeinen Volkstrauer und dem Singverbot. Wir dachten uns auch nichts dabei, als wir unsere Abendlieder im Pfarrhof  erklingen ließen. Am Morgen wird beim Wecken bekannt gegeben, wir sollten alles Gefährliche verräumen, denn die Polizei wird zu uns kommen. Der Pfarrer wurde in der Nacht abgeführt, weil er die Glocken nicht läuten ließ. Als wir vom Waschen im Regen zurückkommen, steht schon die Polizei im Pfarrhof bereit, um die Personalien festzustellen.

Dieser Amtsakt hatte für uns Schüler fatale Folgen: Verhöre durch die Oberstudiendirektoren, Brandmarkung durch Zirkulare in allen Klassen und Heraufsetzung des Schulgeldes. Dies betrug damals den ansehnlichen Betrag von monatlich DM 20.- (nach heutigem Wert ungefähr das 10fache in Euro).   

 

Nach der Rückkehr von der Sommerfahrt ist die 900-Jahrfeier der Stadt und  das 300jährige Jubiläum der Bergkirche. Dies feiern wir mit einer Wallfahrt von mehreren tausend    Jugendlichen. Da Banner und Wimpel verboten sind, tragen wir drei gewaltige Kreuze mit der Aufschrift „Im Kreuz unser Sieg“ zur Gottesmutter empor. Am Rand der Prozession stehen Jungen der HJ, welche auf die Kreuzträger spucken.

 

In den ersten Monaten des Dritten Reiches war das Lehrerkollegium der Oberrealschule gespalten in die Schwarzen und die Braunen, ungefähr zu gleichen Teilen. Der Oberstudiendirektor Dr. Reitinger war schwarz und deshalb den Braunen verdächtig, zumal er vor dem Umschwung einige jüdische Schüler, die von Hitlerjungen angepöbelt wurden, in Schutz nahm.

Mein ehemaliger Klassenleiter, der evangelische Zeichenlehrer Oberstudienrat Kapeller, war ein erklärter Nazigegner. Einmal fuhr er einen etwas begriffsstutzigen Hitlerjungen an: „Wenn der Hitler an die Macht kommen will, dann soll er dich als Sturmbock einsetzen.“

Zu Kapeller hatte ich eine fast freundschaftliche Beziehung. Er ersuchte mich, seine außerordentlich schönen Stilmöbel zu photographieren und beschenkte mich dafür mit einem Aquarell, einem Blick von seiner Wohnung auf die Stadt und einer Kreidezeichnung „Ruhe auf der Flucht“ in einem silbergehämmerten Rahmen. Schließlich vererbte er mir eine Kopie von Rubens, ein 1,50 Meter hohes Bild des Gekreuzigten in einem schweren altgoldfarbenen Rahmen.

Ein Nazigegner, der aus seiner Überzeugung kein Hehl machte, war auch mein Turnlehrer Kerschensteiner. Unser Religionslehrer, der Reli-Bauer war natürlich schwarz, obschon er sich nicht polemisch gab. Er war ein mehr gemütlicher Typ, der seine Schnupftabaksdose zu Beginn der Unterrichtsstunde auf die Fensterbank legen ließ und etwa im Viertelstundentakt sagte: „Kolbspeter, bring mir meine Dose!“

Nach der Machtübernahme hatten die Braunen natürlich Oberwasser. Das waren zumeist jüngere Lehrer. Ihr Spitzenreiter war der Vertrauensmann der Partei an unserer Schule, der Mathematiker und Nazispitzel Studienrat Rix. Aber auch einige ältere Lehrer waren begeisterte Nationalsozialisten, wie der evangelische Oberstudienrat Hachtl, ein Nationalidealist, der sich im Deutschunterricht fast zu Tränen gerührt äußerte: „Eine Sache, für die Menschen zum Sterben bereit sind, ist nicht verloren.“ Ein nationalsozialistischer Scharfmacher war der Englischlehrer Hawelka. Wir nannten ihn den Kukirol-Mann, weil er dieser kleinen Doktorfigur mit großer Hornbrille und spärlichem Haarwuchs, dieser Reklamefigur für Hühneraugenpflaster, zum Verwechseln ähnlich sah.

 

Im Schuljahr 1933/34 war ich Klassensprecher der Oberprima. Dazu hatten mich meine Klassenkameraden – fast ausnahmslos Hitlerjungen – gewählt. Sie konnten sich auch auf mich verlassen und ich mich auf sie. In Chemie hatten wir einen jungen Lehrer, einen schneidigen SA-Mann namens Eißfeldt. Vor einer Chemiestunde baten mich meine Kameraden: „Sag dem Eißfeldt, er soll nicht ausfragen, weil wir keine Zeit zur Vorbereitung hatten.“ Also:„Herr Dr. Eißfeldt, die Klasse bittet Sie, heute nicht auszufragen.“ – „So eine Unverschämtheit! Kommen Sie gleich heraus an die Tafel!“ – Ich schrieb ihm die verlangten Formeln fehlerlos an. „Na, was wollen Sie, Sie können das ja perfekt.“ – „Ich habe Sie doch als Klassensprecher im Namen der Klasse gebeten.“

Nach der Pause mussten wir uns in Zweierreihen anstellen und vom Schulhof in die  Klassenzimmer marschieren - die Kleinen voraus. Manchmal hoben sie die Hand zum Deutschen Gruß vor dem aufsichtführenden Lehrer, manchmal nicht. Diesmal hatte Kukirol-Mann Aufsicht. Die Kleinen hoben die Hand und der Deutsche Gruß pflanzte sich fort bis zur

Unterprima. Die Oberprima  grüßte geschlossen nicht. Der Kukirol-Mann fuhr uns deswegen erbost an. – Tags darauf hatte Hawelka wieder Aufsicht. Die Kleinen unterließen diesmal den.

Deutschen Gruß und deshalb auch die Nachfolgenden. Die Oberprima marschierte im Stechschritt mit erhobener Hand an dem wütenden Hawelka vorbei

 

Das mit dem Deutschen Gruß war eine vertrackte Sache. Wir sahen darin ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus und vermieden ihn. Deshalb wurden wir bei der allgemeinen nationalen Hochstimmung von vielen als Vaterlandsverräter angesehen. Ich kann mich an eine Aufführung im Stadttheater erinnern, welche Soldatentum und Krieg verherrlichte. Am Schluss wurden von allen die Nationalhymnen mit erhobenem Arm gesungen. Ich fiel auf meinem Stehplatz im Parkett nicht auf. Aber auf dem ersten Rang ganz vorn und allgemein sichtbar standen zwei aus unserer Mittelgruppe. Sie sangen das Horst-Wessel-Lied nicht mit und hoben auch nicht den Arm. Aber man sah, dass sie schwitzten und ihr Gesicht war wie mit Blut übergossen.

 

Im Juni war ein Schulfest der Jugend. Die gesamte Oberrealschule war in der Turnhalle versammelt und Studienrat Rix hielt eine begeisterte Lobrede auf den „größten Führer aller Zeiten“ – wir nannten ihn abgekürzt „Gröfaz“ -. Am Schluss wurden natürlich die Nationalhymnen gesungen – mit erhobenem Arm, wie es eine Verordnung des Direktors vorschrieb. Zwei Schüler der Oberklasse erhoben den Arm nicht, die Schüler Soolfrank und Merz. Natürlich hatte das ein Nachspiel: Wir wurden vom Studienrat Rix zur Rede gestellt.

Der Schüler Soolfrank bedauerte, der Schüler Merz nicht. In einer Lehrerratsitzung wurde der Fall heftig debattiert. Der Schüler Merz sollte nach der Forderung der Braunen dimittiert werden. Natürlich waren die Schwarzen dagegen und weil die Abstimmung fifty / fifty verlief, gab der Oberstudiendirektor den Ausschlag. Und das war das Ergebnis:

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Das weitere Schuljahr verlief ohne besondere Zwischenfälle. Ich hatte vollauf zu tun mit der Gruppenführung und Vorbereitung auf das Abitur.

Am 9. November war ein nationaler Gedenktag an den misslungenen Hitlerputsch 1923. Das  nahm Studienrat Rix zum Anlass, mich nochmals auf den Vorfall beim Fest der Jugend anzusprechen. Ich sollte auf Grund der großartigen Entwicklung des Dritten Reiches nun meine frühere Einstellung bedauern und die Bereitschaft zur freudigen Mitarbeit am Aufbau des Hitlerreiches bekunden. Ich sagte Herrn Rix, dass ich die Auffassung des Lehrerrates, ich sei gegen das Volk, bedauere. An meiner Einstellung zum Nationalsozialismus jedoch habe sich nichts geändert. Darauf folgte ein peinliches Verhör durch Herrn Rix, dessen Protokoll er in meiner Anwesenheit  dem Oberstudiendirektor  vortrug. Dabei lernte ich, wie man die Wahrheit sagen und trotzdem lügen kann. Herr Rix hatte das Protokoll so gestaltet, dass alles,  was  gegen mich  sprach, meisterhaft  komponiert war, die positiven  Elemente aber fehlten. Dann wurde mir folgendes Schriftstück zur Unterschrift vorgelegt:

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Mit der Bemerkung, ich müsse mir das in Ruhe überlegen, nahm ich den Zettel und ging nach Hause. Zusammen mit meinem Onkel überlegte ich und dann trat ich aus der Oberrealschule aus – 3 Monate vor dem Abitur –. Das schlug im Lehrerrat ein wie eine Bombe. Die Schwarzen beschuldigten die Nazis, dass sie den Primus der Oberklasse nur wegen seiner geradlinigen Haltung aus der Schule hinaus geekelt hätten und machten einen solchen Terror, dass Studienrat Rix in unserer Wohnung erschien mit dem Ersuchen, ich solle doch wieder an die Schule zurück; ich bräuchte nichts unterschreiben und sei völlig gerechtfertigt. –

 Während dieser Unterredung kam zufällig der 3jährige Platzerhansl herein und mein Onkel gab ihm verstohlen ein Zeichen. Hansel verstand sofort: Er hob die Hand zum Deutschen Gruß: „Heil Hitler!“

Meine Klassenkameraden schrieben gerade Englischschulaufgabe, als ich in die Schule zurückkam. Erfreut grüßte mich mein alter Englischlehrer; er hatte Tränen in den Augen. Oberstudiendirektor Reitinger beschloss die Angelegenheit mit folgendem Schreiben:

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Auf Grund meiner allzu straffen Zeiteinteilung erschien ich pünktlich als Letzter zum Deutschabitur und erhielt die Platznummer 13. Beim Mathe-Abitur hatte ich mich verrechnet und musste fieberhaft die ganze Aufgabe nochmals überarbeiten. Studienrat Rix hatte Aufsicht. Er setzte sich neben mich und sah mir bis zum Ende zu – ohne Erfolg.

 

Für das Abitur 1934 hatte sich das braune Kultusministerium etwas Besonderes ausgedacht, eine „nationale Gesinnungsprüfung“, die für die Zulassung zum Universitätsstudium ausschlaggebend sein sollte. Dieser Schuss ging allerdings nach hinten los. Wir Schwarzen erkannten nämlich sofort die Absicht und richteten uns  darauf ein, während die Hitlerjungen im Bewusstsein ihrer Linientreue ganz unbedarft zur Prüfung auftauchten.

Ich hatte den dicken Schinken „Mein Kampf“ von Hitler durchexzerpiert. Studienrat Rix – wie konnte es anders sein – war Vorsitzender des Prüfungskomitees. Doch hatte er anscheinend Hemmungen, sich mit mir auf ein neues Debakel einzulassen und ersuchte daher den Oberbürgermeister Filbig, einen ehemaligen Deutschlehrer  an der Lehrerbildungsanstalt (dem heutigen MRG), mir die Nationale Sonderprüfung abzunehmen. Auf dem Weg zum Prüfungssaal, dem geräumigen Physikübungsraum, erhielt ich aufmunternde Zusprüche von den Schwarzen. Kerschensteiner sagte: „Merz, lassen Sie sich nicht ins Bockshorn jagen; denken Sie: ‚Die da drunten sitzen, sind lauter Krautköpfe.“ –

Das gesamte Lehrerkollegium war im großen Physik-Übungsraum um den Oberbürgermeister versammelt und ich stand auf einsamer Podiumshöhe vor der erlauchten Versammlung. Die Prüfung verlief zunächst reibungslos, denn ich war gut präpariert. Schließlich stellte der Oberbürgermeister die verhängnisvolle Frage: „Merz, was würde der Führer tun, wenn er merken würde, dass er das Volk nicht mehr hinter sich hat?“ Er bekam die prompte Antwort: „Er würde weiter regieren, weil er von vorneherein keinen Zweifel aufkommen ließ, dass er die Macht auf jeden Fall übernimmt.“ – Im Saal herrschte Totenstille. Der Oberbürgermeister sprang erregt auf und schrie: „Dann wäre er ja ein Tyrann wie Dollfuß in Österreich!“ Nun bekam Filbig die Antwort, die er erwartet hatte: „In seinem Kampf schreibt Hitler allerdings, man müsse dann wieder auf das Volk zurück gehen.“ –„Ja, ja, ja!“-

Trotzdem war Filbig so fair, dass er beantragte, mir auf Grund des Rededuells in Deutsch die Note Eins zu geben. Ich hatte nämlich meiner schlechten Gewohnheit folgend, beim Deutschaufsatz länger gezögert, weil ich immer auf  bessere Einfälle warte und kam daher in Zeitdruck, sodass die Benotung wegen Formmängel zwischen Eins und Zwei schwankte.

Es war Brauch, dass der Primus in Vertretung der Abiturklasse bei der Abschiedsfeier eine Rede hielt. Als mich der Oberstudiendirektor daraufhin ansprach, lehnte ich ab mit der Begründung: „Was ich sagen will, das wollen die nicht  hören, und was die hören wollen, das sage ich nicht.“ Desgleichen verzichtete ich in Anbetracht der politischen Situation auf das Angebot des Oberstudiendirektors, mich für einen Studienfreiplatz im Maximilianeum vorzuschlagen.

Es war übrigens das erste und letzte Mal, dass in Verbindung mit dem Abitur eine nationale Gesinnungsprüfung abgehalten wurde. Die Schwarzen schnitten nämlich weitaus besser ab als die Hitlerjungen, die bei dieser Prüfung sich und die Partei blamierten.

Die Abiturrede hielt dann Leo, einer meiner Gruppenkameraden. Er konnte seine Begeisterung für das dritte Reich ohne Schwierigkeit mit einem praktizierten Katholizismus vereinen. Als Leutnant hat er später dem Gruppenkaplan öffentlich in Uniform ministriert. Freilich musste er seine Hitlerbegeisterung teuer bezahlen: Er kam einarmig aus dem Krieg zurück.

Unser Dichter Hans Baumann verließ in seiner Nazibegeisterung die Gruppe. Bei seinem Austritt sagte ihm der Kaplan: „Hans, was wirst du noch alles erleben müssen, bis du gescheit wirst.“ Hans machte im Dritten Reich Karriere und wurde sogar Mitarbeiter des Reichsjugendführers Baldur v. Schirach.