A) Kindheit und Jugend
Ich bin eine fränkisch-oberpfälzer Mischung: Der Vater meiner Mutter, Johann Platzer, ein Uramberger, war Landwirt, Bierbauer, Wirt und Bäcker in einer Person. Die Platzereheleute hatten sieben Kinder, 5 Buben und 2 Mädchen. Mein Vater, königlicher Bauführer, entstammte einer „modernen“ Bahnbeamtenfamilie aus Franken. Er hatte nur eine Schwester.
Nach ihrer Verheiratung zogen meine Eltern, Otto und Leopoldine, nach Kronach in Oberfranken, wo ich am 14.01.1915 das Licht der Welt erblickte. Ich soll ein gescheites Kind gewesen sein, das früher sprechen und zählen lernte als laufen.
Das Eheglück meiner Eltern war nur von kurzer Dauer. Mein Vater, der wenig Sport betrieb und viel rauchte, starb bereits im Frühjahr 1917 im Alter von 33 Jahren. Noch am Sterbebett äußerte er den Wunsch, dass sein Franzl einmal Bauführer werden sollte: „...dass du ihm jedes Jahr zu Weihnachten einen Baukasten kaufst!“ – Was meine Mutter getreulich erfüllte. Nach dem Tod meines Vaters kehrte meine Mutter mit mir in ihr Elternhaus nach Amberg zurück. Und weil sie sich ganz meiner Erziehung widmen wollte, hat sie auch nicht mehr geheiratet. Sie arbeitete im Platzeranwesen und führte in der Folge den Haushalt ihrer Brüder, die 1918 aus dem Feld heimkehrten.
So verbrachte ich meine frühe Kindheit im Hause Platzer und war mit meinen Großeltern häufig bei den Arbeiten auf Feld und Wiesen. Heute noch kenne ich die Stelle, wo es dann passierte: Der Großvater hatte mich in einer Mulde auf den hochbeladenen Heuwagen postiert und der Girgl, der alte Knecht, führte das Kuhgespann. Da trafen sie einen Bekannten und der Wagen hielt zu einem kurzen Plausch. Natürlich musste ich alles genau sehen. Plötzlich sagte Girgl: „Wirr.“ Die Kühe zogen ruckartig an und ich fiel kopfüber vom Wagen. Zum Glück hatte das keine schlimmeren Folgen. - In den zwanziger Jahren übergab der Großvater das Anwesen und meine Onkel gründeten die Firma „Eisen – Platzer“. Bis zu meinem zehnten Lebensjahr verbrachte ich im Hause Platzer eine glückliche Kindheit.
Dann sollte ich natürlich an eine höhere Schule. Der Klassenlehrer gab den Rat, mich an das Gymnasium zu schicken. So nannte man das humanistische Gymnasium, das im damaligen Amberg als Eliteschule für die Besseren galt. Dieser Plan stieß aber auf den entschiedenen Widerstand des zehnjährigen Franzl: „Ich werde, was mein Vater war und geh auf die Realschule wie mein Vater. Und, wenn ihr mich ans Gymnasium schickt, lern ich nichts und falle durch - und ihr seid schuld.“ Ich wurde also an der damals sechsklassigen Realschule angemeldet. Vorsichtshalber fragte meine Mutter den
Oberstudienrat: „Und was kann der Bub dann nach der Realschule alles werden?“ – „Wenn er nicht Priester oder Professor werden will, alles.“
Zwei Ereignisse sind mir von meinem ersten Realschuljahr in lebhafter Erinnerung:
Die erste Zigarette: Ich weiß noch alles so genau, wie wenn es erst heute passiert wäre. Beim Maiwandertag der ersten Klasse (jetzt Klasse 5) hatte sich der Großteil der Schüler vom Klassenleiter abgesondert und auf den Kuhfelsen der Köferinger Heide begeben. Der Wiederholer Dapprich hatte eine Schachtel mit 25 Zigaretten der Marke Zuban mitgebracht und verteilte sie großzügig: „Wer ein Mann ist, der raucht“; - wir alle waren „Männer“.
Der Abschied vom Großvater: Der Vater meines Vaters war alt, blind und kränklich. Auf eine Einladung der Großmutter hin fuhren wir nach Augsburg, um vom Großvater Abschied zu nehmen. Der nahm mich zwischen die Knie, fasste mich bei den Händen und sagte mir gleichsam als sein Vermächtnis:
„Lerne was, dann kannst du was;
Kannst du was, dann wirst du was;
Bist du was, dann hast du was“
Ich war enttäuscht – als ob das schon etwas wäre: „Hast du was“.
In der zweiten Klasse kam dann für mich eine Lebenswende. Willi Sailer, ein Spielkamerad, sagte mir: „Heute nachmittag gehen wir mit unserem Kaplan auf den Maria-Hilf-Berg zum Spielen.“ Ich war neugierig auf einen Kaplan, der mit Kindern spielte und schlich mich nach Indianerart der kleinen Gruppe, die den Kreuzweg hinaufging, nach - natürlich so, dass man mich sehen musste. Wir spielten „Fuchs aus dem Loch“ und verdroschen den Kaplan ordentlich mit unseren aus Taschentüchern geknoteten Knüppeln. Auf dem Heimweg lud mich dann der Kaplan ein, in seiner Schülergruppe, den Neudeutschen, mitzumachen.
Der Bund Neudeutschland, eine Gemeinschaft von Schülern weiterführender Schulen, hatte sich „Neue Lebensgestaltung in Christus“ zum Ziel gesetzt; Und das wurde für mein ganzes Leben entscheidend. Die erste Forderung lautete: „Wir sind Gegensatzbewegung gegen das Spießbürgertum: darum rauchen und saufen wir nicht.“ Seit dieser Zeit habe ich keinen Zug mehr geraucht. Das war – obwohl von weittragender Bedeutung – nur ein Nebenprodukt unserer Erziehung im Bund Neudeutschland. Lebensgestaltend war das Gruppenleben und die selbstverständlich katholische Atmosphäre unserer Bewegung.
Die wöchentlichen Gruppenstunden in unserem Heim im Dachgeschoss des an die Katharinenkirche angebauten Hauses boten neben Spiel und Unterhaltung jeweils auch einen Kerngedanken zur Lebensgestaltung und endeten mit einem Gebet, das der Gruppenführer frei formulierte. Durch die Lieder, die zu Anfang und zwischenhinein gesungen wurden, gab es weder Leerlauf noch Langeweile.
Jeden Sonntag trafen wir uns um 13 ½ Uhr am Ziegeltor und wanderten ins Freie zu Geländespielen, Schlagball, Faustball und vielen anderen Spielen. Nur das neu in Schwung gekommene Fußballspiel, das bei vielen zur Leidenschaft geworden war, war bei uns verpönt. Auch unsere Musikschar mit Klampfen, Fiedeln, Bratschen, Querpfeiferln und sogar einer Lyra war immer dabei. Manchmal musizierten wir auch für die Dorfbewohner und führten kleine Theaterstücke auf. Am Abend marschierten wir dann in Marschkolonne, Wimpel und Musikschar voraus, mit schneidiger Marschmusik durch die Stadt bis zum Marktplatz. Und nicht selten hörten wir Passanten sagen: „Das ist schön.“ Bei schlechtem Wetter trafen wir uns im Heim zu Spielen, Singen und Unterhaltung.
Wir hatten auch die neuesten Kommunikationsmittel: ein Episkop und eines der ersten Radios in Amberg. Das Ding rauschte und krachte; aber wir waren begeistert, wenn wir nur einige Sätze verstanden. Auf diese Weise hatten wir nie Langeweile oder Frust und wurden vom Kleinsten bis zum Größten eine verschworene Gemeinschaft. Das alles war möglich, weil es kaum Autos und kein Fernsehen gab.
Jeden Montag früh 6 ½ war „Liturgische Messe“ in der Spitalkirche. Dabei wurden die Texte, welche der Priester lateinisch las, deutsch gelesen. Teilnahme an der Gruppenmesse war Pflicht und der Empfang der heiligen Kommunion Selbstverständlichkeit. Nach dem damaligen Nüchternheitsgebot durfte vor Empfang der Kommunion ab Mitternacht weder gegessen noch getrunken werden – mit anderen Worten: die Buben kamen nüchtern zur Messe und aßen ihr Frühstück auf dem Schulweg oder in der Schule. In der Regel gingen wir monatlich zur Beichte. Einmal im Monat war auch für Mittel- und Oberrunde „Christuskreis“, eine Bibelbetrachtung vor dem markanten Christusbild von Samberger mit anschließendem stillen Gebet in der nur vom Ewigen Licht erleuchteten Katharinenkirche.
Höhepunkte im Gruppenleben waren:
Das Hauptfest am 8.Dezember, dem Fest der unbefleckten Empfängnis Mariens. Bei einem feierlichen Gottesdienst wurde das Jungknappen-, Knappen- und Ritterversprechen abgelegt, zu dem man nur bei regelmäßiger Teilnahme an allen Gruppenveranstaltungen und nach Ablegung einer Prüfung zugelassen wurde.
Mehrmals im Jahr waren Elternabende, bei denen ein Bericht über das Gruppenleben gegeben und anschließend Unterhaltung mit Singsang und kleinen Theaterstücken geboten wurde. Aber auch Mehrakter, wie das “Spiel von Christophorus“, „Die Zaubergeige“ und „Der arme Heinrich“ wurden gezeigt. Besonders beliebt war der alljährliche Faschingsabend, bei dem von einem Klapphornquartett die „Schandtaten“ der Buben und natürlich auch des Geistlichen Führers ausgesungen wurden. Auf diese Weise kannte jeder jeden und Eltern und Buben wuchsen zu einer großen Familie zusammen.
Die Gruppendisziplin war straff: Wer rauchte und an den damals üblichen Schülerkneipen teilnahm, der „flog“. Doch empfanden wir die Forderungen der Gruppe keineswegs als streng. Im Gegenteil: wir sahen darin das Bindemittel einer festgefügten Gemeinschaft und die Chance zu Selbstbeherrschung und persönlicher Freiheit.
Keine Wunder, dass die Gruppe auf diese Weise eine ganze Reihe überzeugt katholischer Persönlichkeiten erzog, darunter über 30 Priester.
Was mich betrifft, so wuchs ich schnell in dieses Gruppenmilieu hinein und war bald mit Leib und Seele dabei.
Die erste Fahrt in den großen Ferien 1927 war für mich ein Ereignis. Wir waren zwar nur sechs Buben und ich war mit meinen 13 Jahren der Jüngste. Früh 4 Uhr fuhren wir mit dem
Zug nach Kötzting und wanderten über den Kaitersberg nach Lahm, wo wir in der Jugendherberge übernachteten. Am 2.Tag ging’s über den Osser, vorbei am Schwarzen – und Teufelssee in der Tschechei nach Bayrisch-Eisenstein. Am 3.Tag regnete es in Strömen. Trotzdem wanderten wir unentwegt zum Arbersee und über die Seewand hinauf zum Gipfel, wo wir im Nebel nur drei Meter weit sahen und von peitschendem Regen und kaltem Sturmwind durchbeutelt wurden. In der Schutzhütte schauten wir zu, wie andere kräftig aßen. Bei uns reichten die Finanzen leider nur zu einem Glas Wasser mit ein paar Tropfen Himbeersaft. Toll und erlebnisreich war es trotzdem oder gerade deswegen.
Noch ereignis- und erlebnisreicher war die Fahrt vom 22.Juli bis 5.August 1928. Nach der Fahrtenmesse früh 6 Uhr brachte uns der Zug in die Heimatstadt unseres Gruppenkaplans nach Dingolfing. Dort badeten wir nicht nur in der Isar; mit Musik und Liedern gestalteten wir täglich die morgendlichen Gottesdienste in den Kirchen der Stadt und luden die Dingolfinger in den Garten des Bürgerspitals zu Musik, Singsang und Theaterstücken ein.
Neben großem Beifall erbrachte das auch einen willkommenen Zuschuss für unsere schwindsüchtige Fahrtenkasse. Im Bewusstsein unseres neuen Reichtums leisteten wir uns nun den Luxus von Marmelade aufs Frühstücksbrot und zu den üblichen Nudeln oder Grießbrei.
Am 25. fuhren wir dann mit der Bahn nach Bayrisch-Eisenstein. Von da wanderten wir über Arber, Rachel, Lusen und Dreisessel nach Passau. In lebhafter Erinnerung sind mir die Zeltnacht auf einer Anhöhe bei Bodenmais, der Regenmarsch vom Rachel und der Sonnenaufgang am Dreisessel:
Nach unserem Marsch über den Arber fanden wir in der Bodenmaiser Jugendherberge
unmögliche Zustände vor. Zum Glück hatten wir unsere Zeltplanen dabei und so konnten wir auf einer Anhöhe gegenüber dem Arber unser Lager aufschlagen. Es war eine wundersame Nacht. Zwar schliefen wir auf dem blanken Boden. Doch das erstmalige Erlebnis einer Nachtwache blieb mir unvergesslich: Der klare Sternenhimmel über uns, im Tal einige Lichter und Stille... -
Bei strahlender Sonne haben wir einen Karton Eier behutsam den Rachel herauftransportiert. Rühreier sollte es da oben geben. Der Mehltransport war meine Sache. Wir waren kaum mit dem Essen fertig, als ein fürchterliches Donnerwetter losbrach. Unser Führer Willi war der einzige, der eine Regenhaut dabei hatte. Er musste alle empfindlichen Instrumente darunter nehmen. Ich stopfte das restliche Mehl mit aller Kraft in die Hosentasche und dann ging es unter wolkenbruchartigem Regen den Berg hinunter.
Völlig durchnässt kamen wir in der Touristenherberge in Frauenau an. Wir hängten unsere tropfnassen Klamotten an die Wäscheleine und zogen unsere Turnhosen an – etwas anderes hatten wir nicht dabei. –
Am nächsten Tag war Sonntag und unsere Hosen waren noch patschnass. Zudem war meine Hosentasche prallvoll von einem festen Mehlklotz. Ein Sonntag ohne Messopfer jedoch war für uns undenkbar. So gehen wir denn mit nackten Waden und in Turnhosen zum Hochamt. Geschamig bleiben wir natürlich im Hintergrund der Kirche. Aber dann schreiten wir in Reihe andächtig durch den Mittelgang zur Kommunion - ein Schauspiel für alle Gläubigen, denn den meisten von uns hängen die Windjacken bis an die Knie, sodass man von den Hosen gar nichts sieht.
Auf dem Dreisessel zelteten wir nahe dem Gipfel und schliefen auf Fichtenzweigen. Der prächtige Sonnenaufgang entschädigte uns für alle Strapazen.
Und dann die Hungerfahrt nach Linz: Wegen des Dauerregens hatten wir eine Strecke mit dem Buß fahren müssen. Das hatte ein unverschämtes Loch in unsere Kasse gerissen. So war denn Schmalhans Küchenmeister. Auch unsere bis Krems geplante Dampferfahrt musste gekürzt werden. Des ungeachtet waren wir guter Dinge und genossen die herrliche Donaufahrt in vollen Zügen. Unsere Kapelle spielte bei jeder Haltestation und wir bekamen auch etwas Drinkgeld. Dafür wurde nur Schwarzbrot gekauft – altbackenes, versteht sich. – Besondere Erlebnisse waren noch die teils nächtliche Rückfahrt mit dem Schiff von Linz nach Passau und der Klang der mächtigen Orgel beim sonntäglichen Hochamt im Dom.
Hungrig und müde kamen wir am 5. August abends 9 ½ Uhr in Regensburg an. Den Aufenthalt benützte ich zu einem Besuch meiner Tante. Sie hatte gerade einen ansehnlichen Kuchen gebacken und war so unvorsichtig, mir diesen anzubieten - kein Stück davon blieb übrig.
Mein Appetit und die Kapazität meines Magens in diesen Jahren waren erstaunlich. Als ich einmal von der Schule heimkam, sagte meine Mutter: „Geh zur Tante Fanni! Die ist untröstlich; sie hat nämlich deine Onkel zur Dotschpartie eingeladen und keiner ist gekommen.“ Nachdem ich den gesamten Dotsch vertilgt hatte, kam Onkel Franz. Verlegen fragte ihn die Tante: „Franz, was magst denn? Soll ich dir ein paar Eier machen?“
Allmählich änderten sich auch meine Berufspläne. Mein Klassen- und Gruppenkamerad Hans Graf v. Spreti wollte wie sein berühmter Verwandter, Admiral Spee, Seemann werden. Wir waren richtige Wasserratten. So war denn auch mein Traum: Kapitän, am liebsten Seeräuber, wenn das nicht so unchristlich gewesen wäre.
Um diese Zeit wurde die Realschule zur Oberrealschule mit Abitur aufgestockt und bekam in der Moritzstrasse ein neues Schulgebäude. Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie wir in einer langen Prozession die Gegenstände der naturkundlichen Sammlung – Vögel, Schlangen in Alkohol, ausgestopfte Füchse und Affen... – durch die Stadt zur neuen Schule trugen.
Inzwischen war mir und meinen Gruppenkameraden die Praxis der Lebensgestaltung in Christus zur zweiten Natur geworden:
Jeden Abend Gewissenserforschung mit einem klaren und zeitlich fixierten Vorsatz für den nächsten Tag. Später kam eine Schriftlesung dazu. Wir nannten das die stille Zeit in der der folgende Tag geplant und geordnet wurde. Das bewahrte uns vor einem gedankenlosen Dahinwursteln und leitete uns zu einem Leben in Freiheit an.
Jeden Sonntag nahmen wir am Schulgottesdienst der Oberrealschule um 8 Uhr in der Schulkirche teil, an dem auch der Oberstudiendirektor und einige katholische Lehrer regelmäßig zugegen waren.
Jeden Montag früh 6 ½ Uhr waren wir nüchtern in der Gruppenmesse und kommunizierten.
Jeden ersten Samstag im Monat war Beichte und zwar immer bei dem selben Priester, der – dem Hausarzt vergleichbar - Beratung und Führung im Bereich des Glaubens und des Charakters wahrnahm. Mein Beichtvater war der Gruppenkaplan.
Die monatlichen Christuskreise klärten und vertieften unser Christusbild und motivierten uns zur zeitgemäßen Nachfolge.
So war unsere Lebensgestaltung nicht der Laune oder dem Zufall überlassen, sondern planmäßig und deshalb – wie ich rückschauend sagen kann – auch nachhaltig bis heute.
Um der Gruppengemeinschaft über Abzeichen und Wimpel hinaus auch nach außen hin sichtbaren Ausdruck zu verleihen, beschafften wir uns eine gemeinsame Kluft: braun-schwarz karierte Kletterweste und dunkel-olivgrüne Kniehose. War das ein Ereignis, als wir an einem Wintertag erstmalig damit in der Schule erschienen! Wir waren sechs NDer in der 4.Klasse. Als der zweite im Schulzimmer aufkreuzte und seinen Mantel ablegte, stutzten die anderen. Und dann gab es jedes Mal ein Hallo: „Achtung! – Jetzt kommt wieder einer!“
Drei Ereignisse des Jahres 1929 brachten dann in meinem Leben die entscheidende Wende:
Meine ersten Exerzitien in den Osterferien. 14 Buben aus Amberg und noch einige Dutzend aus anderen Gruppen machten im Knabenseminar Straubing geistliche Übungen – drei Tage unter Stillschweigen. Obwohl wir alle in einem großen Saal schliefen und bei der Meditation an Pulten uns gegenüber saßen, war das damals möglich. Bei diesen Exerzitien ging mir so richtig auf, was „Lebensgestaltung in Christus“ für mich bedeutete.
Der Tod meines Gruppenkameraden Hans Graf von Spreti. Am 26. Juni war Schulfest im Großen Rathaussaal und ich musste dabei ein Gedicht vortragen. Hans sollte mir soufflieren.
Aber er kam nicht. Sofort nach der Feier erkundigte ich mich nach ihm und erfuhr, dass er plötzlich Blutstürze bekommen hatte und nun innerlich verblutete. Ich ging in die Martinskirche zu einem stürmischen Gebet. Gott hat es jedoch anders bestimmt. - Der Gruppenkaplan, der stundenlang am Sterbebett unseres Kameraden weilte, berichtete uns, dass der 14-jährige schon vor Wochen Todesahnungen hatte und sein Testament machte. Am Abend des 26. sagte er zu seinem geistlichen Führer: „Herr Kaplan ich muss sterben. Ich hätte noch so gerne gelebt; aber wenn Christus es will, dann gehe ich auch gerne zu ihm.“ Am folgenden Tag früh 6 Uhr während der Gruppenkaplan für ihn das Messopfer feierte, starb Hans, bewusst und tapfer. Bei der Beerdigung trugen 6 Gruppenkameraden in unserer Kluft unter Geleit der Wimpel den Sarg. Mit dem Lied „Dort oben vor der himmlischen Tür...“ verabschiedeten wir uns von unserem Grafenhans.
Es folgt ein erlebnisreicher Sommer mit Fahrt zum ND-Bundestag in Fulda und anschließen- der Wanderung durch Spessart und Rhön. An dieser Fahrt nahm auch unser Helmut Holzapfel teil. Er war ein überragender Einserschüler, aber leider sehr korpulent. Und wenn es auf steinigen Pfaden in brütender Sonnenglut den Berg hinauf ging, lief ihm der Schweiß in Strömen von der Stirne und er seufzte das eine über das andere Mal: „Ach ist das eine Chaussee!“
Im September war Elternabend und am 5.Oktober radelten wir zur Gründung einer ND-Gruppe nach Neumarkt, das – wie unsere Gruppenchronik schreibt - „zum großen Teil für Hitlers Ziele eingenommen ist“. Dort hatte Dr. Graber, der spätere Bischof von Regensburg, als Religionslehrer an der Realschule eine Bubengruppe gesammelt, die für unseren Bund begeistert werden soll. Noch am gleichen Abend war Fackelzug durch die Stadt zum Kirchplatz, wo die Nürnberger den „Totentanz“ aufführten. Im November trafen wir uns dann mit den Neumarktern in Kastl und übergaben ihnen im Rahmen einer Gottesdienstfeier einen neuen Wimpel.
Und nun kommt das dritte entscheidende Erlebnis dieses Jahres. 14 Jahre jung übernehme ich als Führer die Junggruppe mit 30 Buben der 1. -3. Klasse. Das war damals möglich, weil die Kinder nicht verwöhnt waren und von ihren Eltern zum Gehorsam angehalten wurden.
Im Sommer 1931 war ich dann - 16-jährig - Mittelgruppen- und Gesamtgruppenführer bis zum Abitur. Diese Aufgabe hat mich am stärksten geprägt und mir mehr vermittelt als die Schule. Gewiss, die Schule gab mir das Rüstzeug für die Hochschule; die Gruppe aber gab mir Menschenkenntnis und die Fähigkeit mit Menschen umzugehen, Redegewandtheit und vor allem charakterliche und religiöse Prägung. Ich sah mich in die Pflicht genommen, in Schule und Gruppe, in guten und schwierigen Situationen Lebensgestaltung in Christus nicht nur in Worten, sondern aus eigener Lebenserfahrung zu vermitteln.
Die verantwortliche Führung junger Menschen bewirkte in mir eine weitere entscheidende Wandlung. Im Alter von 16. Jahren war mir sonnenklar: “ Ich werde Priester“, oder wie ich das vor Jugendlichen formuliere: „ Nicht mehr Seeräuber, sondern Seelenräuber.“ Jeder andere Beruf schien mir zweitrangig oder nebensächlich. Meine Onkel, erfolgreiche Geschäftsleute, wollten aus mir einen Weltkaufmann machen, andere stellten mir Prestige und Einkommen des Arztes verlockend dar. Jedoch weder Geld noch Ansehen kamen mir erstrebenswert vor. Die große Perspektive einer Welt in Gott, das unendliche Zusammenspiel von Zeit und Ewigkeit war mir aufgegangen. Das wollte ich jungen Menschen erschließen und damit einen tragenden Lebenssinn, die geistige Basis für das Glück. Zwar sprach ich zu niemandem darüber und ließ meine Angehörigen große Pläne schmieden; aber ich arbeitete von nun an bewusst auf dieses Ziel hin.
Da wir an der Oberrealschule nur die Pflichtsprachen Englisch und Französisch hatten, nahm ich in der Oberstufe Latein als Wahlfach und musste deshalb drei Jahre lang an zwei Tagen in der Woche nachmittags jeweils zwei Lateinstunden büffeln, um wenigstens das Kleine Latinum zu schaffen.